Martin Heidegger: Die Sprache
in: Martin Heidegger. Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959 (Verlag Günther Neske) p. 9-33
Der Mensch spricht. Wir sprechen im Wachen und im Traum. Wir sprechen stets; auch dann, wenn wir kein Wort verlauten lassen, sondern nur zuhören oder lesen, sogar dann, wenn wir weder eigens zuhören noch lesen, stattdessen einer Arbeit nachgehen oder in der Muße aufgehen. Wir sprechen ständig in irgendeiner Weise. Wir sprechen, weil Sprechen uns natürlich ist. Es entspringt nicht erst aus einem besonderen Wollen. Man sagt, der Mensch habe die Sprache von Natur. Die Lehre gilt, der Mensch sei im Unterschied zu Pflanze und Tier das sprachfähige Lebewesen. Der Satz meint nicht nur, der Mensch besitze neben anderen Fähigkeiten auch diejenige zu sprechen. Der Satz will sagen, erst die Sprache befähige den Menschen, dasjenige Lebewesen zu sein, das er als Mensch ist. Als der Sprechende ist der Mensch: Mensch. Wilhelm von Humboldt hat dies gesagt. Doch es bleibt zu bedenken, was dies heißt: der Mensch.
In jedem Falle gehört die Sprache in die nächste Nachbarschaft des Menschenwesens. Überall begegnet Sprache. Darum kann es nicht verwundern, daß der Mensch, sobald er sich denkend in dem umsieht, was ist, alsbald auch auf die Sprache trifft, um sie in einer maßgebenden Hinsicht auf das, was sich von ihr zeigt, zu bestimmen. Das Nachdenken versucht, sich eine Vorstellung von dem zu verschaffen, was Sprache im allgemeinen ist. Das Allgemeine, das für jede Sache gilt, nennt man das Wesen. Allgemeingültiges im allgemeinen vorstellen, das ist nach den herrschenden Urteilen der Grundzug des Denkens. Denkend von der Sprache handeln, heißt demgemäß: vom Wesen der Sprache eine Vorstellung geben und diese gegen andere Vorstellungen gehörig abgrenzen. Dergleichen scheint auch dieser Vortrag zu versuchen. Allein der Titel des Vortrags lautet nicht: Vom Wesen der Sprache. Er lautet nur: Die Sprache. «Nur» sagen wir und setzen doch offenbar einen weit anmaßenderen Titel über unser Vorhaben, als wenn wir uns dabei bescheiden, einiges über die Sprache zu erörtern. Indes, über die Sprache sprechen ist vermutlich noch schlimmer als über das Schweigen schreiben. Wir wollen nicht die Sprache überfallen, um sie in den Griff schon festgemachter Vorstellungen zu zwingen. Wir wollen das Wesen der Sprache nicht auf einen Begriff bringen, damit dieser eine überall nutzbare Ansicht über die Sprache liefere, die alles Vorstellen beruhigt.
Die Sprache erörtern heißt, nicht so sehr sie, sondern uns an den Ort ihres Wesens bringen: Versammlung in das Ereignis. Der Sprache selbst und nur ihr möchten wir nach-denken. Die Sprache selbst ist: die Sprache und nichts außerdem. Die Sprache selbst ist die Sprache. Der logisch geschulte, alles durchrechnende und darum meisthochfahrende Verstand nennt diesen Satz eine nichtssagende Tautologie. Zweimal nur das Gleiche sagen: Sprache ist Sprache, wie soll dies uns weiterbringen? Wir wollen jedoch nicht weiterkommen. Wir möchten nur erst einmal eigens dorthin gelangen, wo wir uns schon aufhalten. Darum bedenken wir: Wie steht es mit der Sprache selbst? Darum fragen wir: Wie west die Sprache als Sprache? Wir antworten: Die Sprache spricht. Ist dies im Ernst eine Antwort? Vermutlich schon; dann nämlich, wenn ans Licht kommt, was sprechen heißt.
Der Sprache nachdenken verlangt somit, daß wir auf das Sprechen der Sprache eingehen, um bei der Sprache, d. h. in ihrem Sprechen, nicht in unserem, den Aufenthalt zu nehmen. Nur so gelangen wir in den Bereich, innerhalb dessen es glückt oder auch mißglückt, daß aus ihm die Sprache uns ihr Wesen zuspricht.
Der Sprache überlassen wir das Sprechen. Wir möchten die Sprache weder aus anderen, das nicht sie selber ist, begründen, noch möchten wir anderes durch die Sprache erklären. Am 10. August 1784 schrieb Hamann an Herder (Hamanns Schriften, Ed. Roth Vll, S. 151 f.):
«Wenn ich so beredt wäre wie Demosthenes, so würde ich doch nicht mehr als ein einziges Wort dreymal wiederholen müssen: Vernunft ist Sprache, Logos. An diesem Markknochen nage ich und werde mich zu Tode darüber nagen. Noch bleibt es immer finster über dieser Tiefe für mich ; ich warte noch -immer auf einen apokalyptischen Engel mit einem Schlüssel zu diesem Abgrund.»
Für Hamann besteht dieser Abgrund darin, daß die Vernunft Sprache ist. Hamann kommt auf die Sprache zurück bei dem Versuch, zu sagen, was die Vernunft sei. Der Blick auf diese fällt in die Tiefe eines Abgrundes. Besteht dieser nur darin, daß die Vernunft in der Sprache beruht, oder ist gar die Sprache selbst der Abgrund? Vom Abgrund sprechen wir dort, wo es vom Grund weggeht und uns ein Grund fehlt, insofern wir nach dem Grunde suchen und darauf ausgehen, auf einen Grund zu kommen. Indes fragen wir jetzt nicht, was die Vernunft sei, sondern denken sogleich der Sprache nach und nehmen dabei als leitenden Wink den seltsamen Satz: Sprache ist Sprache. Der Satz bringt uns nicht zu anderem, worin die Sprache gründet. Er sagt auch nichts darüber, ob die Sprache selbst ein Grund für anderes sei. Der Satz: Sprache ist Sprache, läßt uns über einen Abgrund schweben, solange wir bei dem aushalten, was er sagt.
Die Sprache ist: Sprache. Die Sprache spricht. Wenn wir uns in den Abgrund, den dieser Satz nennt, fallen lassen, stürzen wir nicht ins Leere weg. Wir fallen in die Höhe. Deren Hoheit öffnet eine Tiefe. Beide durchmessen eine Ortschaft, in der wir
heimisch werden möchten, um den Aufenthalt für das Wesen des Menschen zu finden.
Der Sprache nachdenken heißt: auf eine Weise in das Sprechen der Sprache gelangen, daß es sich als das ereignet, was dem Wesen der Sterblichen den Aufenthalt gewährt. Was heißt sprechen? Die gängige Meinung darüber stellt fest: Sprechen ist die Betätigung der Werkzeuge der Verlautbarung und des Gehörs. Sprechen ist das lautliche Ausdrücken und Mitteilen menschlicher Gemütsbewegungen. Diese sind geleitet von Gedanken. Nach solcher Kennzeichnung der Sprache gilt dreierlei für ausgemacht: Zum ersten und vor allem ist Sprechen ein Ausdrücken. Die Vorstellung von der Sprache als einer Äußerung ist die geläufigste. Sie setzt schon die Vorstellung eines Inneren voraus, das sich äußert. Wird die Sprache als .Äußerung genommen, dann ist sie äußerlich vorgestellt und dies gerade dann, wenn man die Äußerung durch den Rückgang auf ein Inneres erklärt.
Zum anderen gilt das Sprechen als eine Tätigkeit des Menschen. Demgemäß müssen wir sagen: Der Mensch spricht, und er spricht je eine Sprache. Wir können darum nicht sagen: Die Sprache spricht; denn dies würde heißen: Die Sprache erwirkt und er-gibt erst den Menschen. So gedacht wäre der Mensch ein Versprechen der Sprache.
Schließlich ist das vom Menschen betätigte Ausdrücken stets ein Vorstellen und Darstellen des Wirklichen und Unwirklichen. Man weiß seit langem, daß die angeführten Kennzeichen nicht ausreichen, um das Wesen der Sprache zu umgrenzen. Wo dieses jedoch auf den Ausdruck festgelegt wird, gibt man ihm dadurch eine umfassendere Bestimmung, daß man das Ausdrücken als eine unter anderen Tätigkeiten in die Gesamtökonomie der Leistungen einbaut, durch die der Mensch sich selber macht.
Gegenüber der Kennzeichnung des Sprechens als einer nur menschlichen Leistung betonen andere, das Wort der Sprache sei göttlichen Ursprungs. Gemäß dem Beginn des Prologs des Johannes-Evangeliums war das Wort im Anfang bei Gott. Aber nicht nur die Ursprungsfrage sucht man aus den Fesseln der rational-logischen Erklärung zu befreien, man beseitigt auch die Schranken der nur logischen Beschreibung der Sprache. Entgegen der ausschließlichen Charakteristik der Wortbedeutungen als Begriffe rückt man den Bild- und Symbol-Charakter der Sprache in den Vordergrund. So bemüht man denn die Biologie und die philosophische Anthropologie, die Soziologie und die Psycho-Pathologie, die Theologie und die Poetik, um die sprachlichen Erscheinungen umfassender zu beschreiben und zu erklären.
Indes bezieht man dabei alle Aussagen im voraus auf die von altersher maßgebende Erscheinungsweise der Sprache. Man verfestigt hierdurch die schon festgemachte Hinsicht auf das Wesensganze der Sprache. So kommt es, daß die grammatisch- logische, die sprachphilosophische und die sprachwissenschaftliche Vorstellung von der Sprache seit zweieinhalb Jahrtausenden dieselbe geblieben ist, obwohl die Erkenntnisse über die Sprache sich fortgesetzt mehrten und wandelten.
Man könnte diese Tatsache sogar als einen Beweisgrund für die unerschütterliche Richtigkeit der leitenden Vorstellungen über die Sprache anführen. Niemand wird wagen, die Kennzeichnung der Sprache als lautliche Äußerung innerer Gemütsbewegungen, als menschliche Tätigkeit, als ein bildhaft-begriffliches Darstellen für unrichtig zu erklären oder gar als nutzlos zu verwerfen. Das angeführte Betrachten der Sprache ist richtig; denn es richtet sich nach dem, was eine Untersuchung sprachlicher Erscheinungen an diesen jederzeit ausmachen kann. Im Bezirk dieses Richtigen bewegen sich denn auch alle Fragen, von denen das Beschreiben und Erklären der sprachlichen Erscheinungen begleitet wird.
Zu wenig bedenken wir freilich noch die seltsame Rolle dieser richtigen Vorstellungen von der Sprache. Sie behaupten, gleich als seien sie unerschütterlich, überall das Feld der verschiedenartigen wissenschaftlichen Betrachtungsweisen der Sprache. Sie reichen in eine alte Überlieferung zurück. Dennoch lassen sie die älteste Wesensprägung der Sprache völlig unbeachtet. So geleiten sie denn trotz ihres Alters undtrotzihrer Verständlichkeit niemals zur Sprache als Sprache.
Die Sprache spricht. Wie ist es mit ihrem Sprechen? Wo finden wir solches? Am ehesten doch im Gesprochenen. Darin nämlich hat das Sprechen sich vollendet. Im Gesprochenen hört das Sprechen nicht auf. Im Gesprochenen bleibt das Sprechen geborgen. Im Gesprochenen versammelt das Sprechen die Weise, wie es währt, und das, was aus ihm währt- sein Währen, sein Wesen. Aber zumeist und zu oft begegnet uns das Gesprochene nur als das Vergangene eines Sprechens.
Wenn wir darum das Sprechen der Sprache im Gesprochenen suchen müssen, werden wir gut daran tun, statt nur beliebig Gesprochenes wahllos aufzugreifen, ein rein Gesprochenes zu finden. Rein Gesprochenes ist jenes, worin die Vollendung des Sprechens, die dem Gesprochenen eignet, ihrerseits eine anfangende ist. Rein Gesprochenes ist das Gedicht. Wir müssen diesen Satz zunächst als nackte Behauptung stehen lassen. Wir dürfen dies, falls es gelingt, aus einem Gedicht rein Gesprochenes zu hören. Doch welches Gedicht soll zu uns sprechen? Hier bleibt uns nur eine Wahl, die jedoch vor bloßer Willkür geschützt ist. Wodurch? Durch das, was uns schon als das Wesende der Sprache zugedacht ist, falls wir dem Sprechen der Sprache nachdenken.
Dieser Bindung zufolge wählen ‘Wir als rein Gesprochenes ein Gedicht, das, eher als andere, bei den ersten Schritten uns helfen kann, das Bündige jener Bindung zu erfahren. Wir hören das Gesprochene. Das Gedicht trägt die Überschrift:
Ein Winterabend
Wenn der Schnee ans Fenster fällt,
Lang die Abendglocke läutet,
Vielen ist der Tisch bereitet
Und das Haus ist wohlbestellt.
Mancher auf der Wanderschaft
Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden.
Golden blüht der Baum der Gnaden
Aus der Erde kühlem Saft.
Wanderer tritt still herein;
Schmerz versteinerte die Schwelle.
Da erglänzt in reiner Helle
Auf dem Tische Brot und Wein.
Die zwei letzten Verse der zweiten Strophe und die dritte Strophe lauten in der ersten Fassung (Brief an Karl Kraus vom 13. 12. 1913):
Seine Wunde voller Gnaden
Pflegt der Liebe sanfte Kraft.
O! des Menschen bloße Pein.
Der mit Engeln stumm gerungen,
Langt, von heiligem Schmerz bezwungen,
Still nach Gottes Brot und Wein.
(Vgl. die Schweizer Neuausgabe der Dichtungen von G. Trakl, besorgt von Kurt Horwitz, 1946.)
Das Gedicht hat Georg Trakl gedichtet. Daß er der Dichter ist, bleibt unwichtig; hier, wie bei jedem anderen großgeglückten Fall eines Gedichtes. Das Großgeglückte besteht sogar mit darin, daß es Person und Namen des Dichters verleugnen kann.
Das Gedicht ist durch drei Strophen geformt. Ihr Versmaß und die Reimart lassen sich nach den Schemata der Metrik und Poetik genau bestimmen. Der Inhalt des Gedichtes ist verständlich. Kein Wort findet sich, das, für sich genommen, unbekannt oder unklar wäre. Zwar lauten einige Verse befremdlich, so der dritte und vierte der zweiten Strophe :
Golden blüht der Baum der Gnaden
Aus der Erde kühlem Saft.
Insgleichen überrascht der zweite Vers der dritten Strophe:
Schmerz versteinerte die Schwelle.
Aber die jetzt herausgehobenen Verse bekunden auch eine besondere Schönheit der gebrauchten Bilder. Diese Schönheit erhöht den Reiz des Gedichtes und bekräftigt die ästhetische Vollendung des Kunstgebildes.
Das Gedicht beschreibt einen Winterabend. Die erste Strophe schildert, was draußen geschieht: Schneefall und Läuten der Abendglocke. Das Draußen rührt an das Drinnen der menschlichen Wohnstatt. Der Schnee fallt ans Fenster. Die Glocke läutet in jegliches Haus hinein. Drinnen ist alles gut bestellt und der Tisch bereitet.
Die zweite Strophe läßt einen Gegensatz erstehen. Gegenüber den Vielen, die im Haus und am Tisch heimisch sind, wandern Manche unheimisch auf dunklen Pfaden. Doch führen solche vielleicht bösen Wege bisweilen an das Tor des bergenden Hauses. Dieses wird zwar nicht eigens vorgestellt. Stattdessen nennt das Gedicht den Baum der Gnaden.
Die dritte Strophe bittet den Wanderer herein aus dem dunklen Draußen in die Helle drinnen. Aus den Häusern der Vielen und aus den Tischen ihrer alltäglichen Mahlzeiten ist das Gotteshaus und der Altartisch geworden.
Der Inhalt des Gedichtes ließe sich noch deutlicher zergliedern, seine Form noch genauer umgrenzen, wir blieben bei solchem Verfahren jedoch überall in die Vorstellung von der Sprache gebannt, die seit Jahrtausenden herrscht. Darnach ist die Sprache der vom Menschen vollzogene Ausdruck innerer Gemütsbewegungen und der sie leitenden Weltansicht. Läßt sich der Bann dieser Vorstellung über die Sprache brechen? Weshalb soll er gebrochen werden? Die Sprache ist in ihrem Wesen weder Ausdruck, noch eine Betätigung des Menschen. Die Sprache spricht.
Wir suchen jetzt das Sprechen der Sprache im Gedicht. Demnach liegt das Gesuchte im Dichterischen des Gesprochenen.
«Ein Winterabend» lautet die Überschrift des Gedichtes. Wir erwarten von ihm die Beschreibung eines Winterabends, wie er wirklich ist. Allein das Gedicht stellt nicht einen irgendwo und irgendwann anwesenden Winterabend vor. Es schildert weder
einen schon anwesenden nur ab, noch will es einem nicht anwesenden Winterabend den Anschein eines Anwesenden und den Eindruck eines solchen verschaffen. Natürlich nicht, wird man entgegnen. Alle Welt weiß, daß ein Gedicht Dichtung ist. Es dichtet sogar dort, wo es zu beschreiben scheint. Dichtend bildet sich der Dichter ein möglicherweise Anwesendes in seinem Anwesen vor. Gedichtet bildet das Gedicht das so Vorgebildete unserem Vorstellen ein .. Im Sprechen des Gedichtes spricht sich die dichterische Einbildungskraft aus. Das Gesprochene des Gedichtes ist das vom Dichter aus ihm Herausgesprochene. Dieses Ausgesprochene spricht, indem es seinen Gehalt ausspricht. Die Sprache des Gedichtes ist ein mehrfähiges Aussprechen. Die Sprache erweist sich unbestreitbar als Ausdruck. Das jetzt Erwiesene steht aber gegen den Satz: Die Sprache spricht, gesetzt, daß Sprechen im Wesen nicht ein Ausdrücken ist.
Selbst wenn wir das Gesprochene des Gedichtes vom Dichten her verstehen, erscheint uns das Gesprochene wie unter einem Zwang immer wieder und immer nur als ausgesprochenes Aussprechen. Sprache ist Ausdruck. Warum fügen wir uns diesem Tatbestand nicht? Weil das Richtige und das Gängige dieser Vorstellung von der Sprache nicht zureichen, um darauf die Erörterung ihres Wesens zu gründen. Wie ermessen wir das Unzureichende? Muß uns, damit wir solches Messen vermögen, nicht schon ein anderes Maß binden? Allerdings. Es bekundet sich in dem Satz: Die Sprache spricht. Bisher sollte dieser Leitsatz nur erst die verhärtete Gewohnheit abwehren, das Sprechen, statt es aus ihm selber zu denken, sogleich unter die Erscheinungen des Ausdrückens abzuschieben. Das gesagte Gedicht ist deshalb gewählt, weil es auf eine nicht weiter erklärbare Weise die Eignung bekundet, unserem Versuch, die Sprache zu erörtern, einige fruchtbare Winke zu leihen.
Die Sprache spricht. Dies heißt zugleich und zuvor: Die Sprache spricht. Die Sprache? Und nicht der Mensch? Ist, was der Leitsatz uns jetzt zumutet, nicht noch ärger? Wollen wir auch noch leugnen, daß der Mensch dasjenige Wesen sei, das spricht? Keineswegs. Wir leugnen dies so wenig wie die Möglichkeit; die sprachlichen Erscheinungen unter dem Titel «Ausdruck » einzuordnen. Doch wir fragen: Inwiefern spricht der Mensch? Wir fragen: Was ist Sprechen?
Wenn der Schnee ans Fenster fällt,
Lang die Abendglocke läutet,
Dieses Sprechen nennt den Schnee, der spät am schwindenden Tag, während die Abendglocke läutet, lautlos das Fenster trifft. Bei solchem Flockenfall währt alles Währende länger. Darum läutet die Abendglocke, die täglich ihre streng begrenzte Zeit hindurch ertönt, lang. Das Sprechen nennt die Winterabendzeit. Was ist dieses Nennen? Behängt es nur die vorstellbaren, bekannten Gegenstände und Vorgänge: Schnee, Glocke, Fenster, fallen, läuten-mit den Wörtern. einer Sprache? Nein. Das Nennen verteilt nicht Titel, verwendet nicht Wörter, sondern ruft ins Wort. Das Nennen ruft. Das Rufen bringt sein Gerufenes näher. Gleichwohl schafft dies Näherbringen das Gerufene nicht herbei, um es im nächsten Bezirk des Anwesenden abzusetzen und darin unterzubringen. Der Ruf ruft zwar her. So bringt er das Anwesen des vordem Ungerufenen in eine Nähe. Allein, indem der Ruf herruft, hat er dem Gerufenen schon zugerufen. Wohin? In die Feme, in der Gerufenes weilt als noch Abwesendes.
Das Herrufen ruft in eine Nähe. Aber der Ruf entreißt gleichwohl das Gerufene nicht der Ferne, in der es durch das Hinrufen gehalten bleibt. Das Rufen ruft in sich und darum stets hin und her; her: ins Anwesen; hin: ins Abwesen. Schneefall und Läuten der Abendglocke sind jetzt und hier im Gedicht zu uns gesprochen. Sie wesen im Ruf an. Dennoch fallen sie keineswegs unter das jetzt und hier in diesem Saal Anwesende. Welche Anwesenheit ist die höhere, die des Vorliegenden oder die des Gerufenen?
Vielen ist der Tisch bereitet
Und das Haus ist wohlbestellt.
Die beiden Verszeilen sprechen wie Aussagesätze, als ob sie Vorhandenes feststellten. Das entschiedene «ist» klingt so. Dennoch spricht es rufend. Die Verse bringen den bereiteten Tisch und das wohlbestellte Haus in jenes dem Abwesen zu-gehaltene Anwesen.
Was ruft die erste Strophe? Sie ruft Dinge, heißt sie kommen. “Wohin? Nicht als Anwesende unter das Anwesende, nicht den im Gedicht genannten Tisch hierher zwischen die von Ihnen besetzten Sitzreihen. Der im Ruf mitgerufene Ort der Ankunft ist ein ins Abwesen geborgenes Anwesen. In solche Ankunft heißt der nennende Ruf kommen. Das Heißen ist Einladen. Es lädt die Dinge ein, daß sie als Dinge die Menschen angehen. Der Schneefall bringt die Menschen unter den in die Nacht verdämmerenden Himmel. Das Läuten der Abendglocke bringt sie als die Sterblichen vor das Göttliche. Haus und Tisch binden die Sterblichen an die Erde. Die genannten Dinge versammeln, also gerufen, bei sich Himmel und Erde, die Sterblichen und die Göttlichen. Die Vier sind ein ursprünglich-einiges Zueinander. Die Dinge lassen das Geviert der Vier bei sich verweilen. Dieses versammelnde Verweilenlassen ist das Dingen der Dinge. Wir nennen das im Dingen der Dinge verweilte einige Geviert von Himmel und Erde, Sterblichen und Göttlichen’ die Welt. Im Nennen sind die genannten Dinge in ihr Dingen gerufen. Dingend ent-falten sie Welt, in der die Dinge weilen und so je die welligen sind. Die Dinge tragen, indem sie dingen, Welt aus. Unsere alte Sprache nennt das Austragen: bern, hären, daher die Wörter «gebären» und «Gebärde». Dingend sind die Dinge Dinge. Dingend gebärden sie Welt.
Die erste Strophe ruft die Dinge in ihr Dingen, heißt sie kommen.
Das Heißen, das Dinge ruft, ruft her, lädt sie ein und ruft zugleich zu den Dingen hin, empfiehlt sie der Welt an, aus der sie erscheinen. Darum nennt die erste Strophe nicht bloß Dinge. Sie nennt zugleich Welt. Sie ruft die «Vielen», die als die Sterblichen zum Geviert der Welt gehören. Die Dinge be-dingen die Sterblichen. Dies sagt jetzt: Die Dinge besuchen jeweils die Sterblichen eigens mit Welt. Die erste Strophe spricht, indem sie die Dinge kommen heißt.
Die zweite Strophe spricht in anderer Weise als die erste. Zwar heißt auch sie kommen. Aber ihr Rufen beginnt, indem sie die Sterblichen ruft und nennt:
Mancher auf der Wanderschaft …
Weder alle Sterblichen sind gerufen, noch die Vielen, sondern nur «Manche»; jene, die auf dunklen Pfaden wandern. Diese Sterblichen vermögen das Sterben als die Wanderschaft zum Tode. Im Tod versammelt sich die höchste Verborgenheit des Seins. Der Tod hat jedes Sterben schon überholt. Die «auf der Wanderschaft» müssen erst Haus und Tisch durch das Dunkel ihrer Pfade erwandern, nicht nur und nicht einmal zuerst für sich, sondern für die Vielen; denn diese meinen, sie seien, wenn sie sich nur in Häusern einrichteten und an Tischen säßen, schon von den Dingen be-dingt und seien in das Wohnen gelangt. Die zweite Strophe beginnt, indem sie Manche der Sterblichen ruft. Obzwar die Sterblichen mit den Göttlichen, mit Erde und Himmel zum Geviert der Welt gehören, rufen die beiden ersten Verse der zweiten Strophe doch nicht eigens die Welt. Vielmehr nennen sie fast wie die erste Strophe, nur in anderer Folge, zugleich die Dinge’ das Tor, die dunklen Pfade. Erst die beiden anderen Verse der zweiten Strophe rufen eigens die Welt. Jäh nennen sie ganz Anderes:
Golden blüht der Baum der Gnaden
Aus der Erde kühlem Saft.
Der Baum wurzelt gediegen in der Erde. So gedeiht er in das Blühen, das sich dem Segen des Himmels öffnet. Das Ragen des Baumes ist gerufen. Es durchmißt zumal den Rausch des Erblühens und die Nüchternheit der nährenden Säfte. Verhaltenes Wachstum der Erde und die Spende des Himmels gehören zueinander.
Das Gedicht nennt den Baum der Gnaden. Sein gediegenes Blühen birgt die unverdient zufallende Frucht: darettend Heilige, das den Sterblichen hold ist. Im golden blühenden Baum walten Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen. Ihr einiges Geviert ist die Welt. Das Wort «Welt» ist jetzt nicht mehr im metaphysischen Sinne gebraucht. Es nennt weder das säkularisiert vorgestellte Universum von Natur und Geschichte, noch nennt es die theologisch vorgestellte Schöpfung (mundus), noch meint es lediglich das Ganze des Anwesenden (kosmos).
Der dritte und vierte Vers der zweiten Strophe rufen den Baum der Gnaden. Sie heißen eigens die Welt kommen. Sie rufen das Welt-Geviert her und rufen so Welt zu den Dingen hin. Die Verse heben mit dem Wort «Golden» an. Damit wir dieses Wort und sein Gerufenes deutlicher hören, sei an ein Gedicht Pindars erinnert (Isthm. V.). Der Dichter nennt am Beginn dieser Ode das Gold perioosion pantoon, das was alles, panta, jegliches Anwesende ringsum, vor allem durchglänzt. Der Glanz des Goldes birgt alles Anwesende in das Unverborgene seines Erscheinens. Wie das Rufen, das die Dinge nennt, her- und hin-ruft, so ruft das Sagen, das die Welt nennt, in sich her und hin. Es traut Welt den Dingen zu und birgt zugleich die Dinge in den Glanz von Welt. Diese gönnt den Dingen ihr Wesen. Die Dinge gebärden Welt. Welt gönnt die Dinge.
Das Sprechen der beiden ersten Strophen spricht, indem es Dinge zur Welt und Welt zu den Dingen kommen heißt. Beide Weisen des Reißens sind geschieden, aber nicht getrennt. Sie sind aber auch nicht nur aneinander gekoppelt. Denn Welt und Dinge bestehen nicht nebeneinander. Sie durchgehen einander.
Hierbei durchmessen die Zwei eine Mitte. In dieser sind sie einig. Als so Einige sind sie innig. Die Mitte der Zwei ist die Innigkeit. Die Mitte von Zweien nennt unsere Sprache das Zwischen. Die lateinische Sprache sagt: inter. Dem entspricht das deutsche «unter». Die Innigkeit von Welt und Ding ist keine Verschmelzung. Innigkeit waltet nur, wo das Innige, Welt und Ding, rein sich scheidet und geschieden bleibt. In der Mitte der Zwei, im Zwischen von Welt und Ding, in ihrem inter, in diesem Unter- waltet der Schied.
Die Innigkeit von Welt und Ding west im Schied des Zwischen, west im Unter-Schied. Das Wort Unter-Schied wird jetzt dem gewöhnlichen und gewohnten Gebrauch entzogen. Was das Wort «der Unter-Schied» jetzt nennt, ist nicht ein Gattungsbegriff
für vielerlei Arten von Unterschieden. Der jetzt genannte Unter-Schied ist nur als dieser Eine. Er ist einzig. Der Unter-Schied hält von sich her die Mitte auseinander, auf die zu und durch die hindurch Welt und Dinge zueinander einig sind.
Die Innigkeit des Unter-Schiedes ist das Einigende der Diaphora, des durchtragenden Austrags. Der Unter-Schied trägt Welt in ihr Welten, trägt die Dinge in ihr Dingen aus. Also sie austragend, trägt er sie einander zu. Der Unter-Schied vermittelt nicht nachträglich, indem er Welt und Dinge durch eine herzugebrachte Mitte verknüpft. Der Unter-Schied ermittelt als die :Mitte erst Welt und Dinge zu ihrem Wesen, d. h. in ihr Zueinander, dessen Einheit er austrägt.
Das Wort «Unter-Schied» meint demnach nicht mehr eine Distinktion, die erst durch unser Vorstellen zwischen Gegenständen aufgestellt wird. Der Unter-Schied ist gleichwenig nur eine Relation, die, zwischen Welt und Ding vorliegt, so daß ein Vorstellen, das darauf trifft, sie feststellen kann. Der Unter-Schied wird nicht nachträglich von Welt und Ding als deren Beziehung abgehoben. Der Unter-Schied für Welt und Ding ereignet Dinge in das Gebärden von Welt, ereignet Welt in das Gönnen von Dingen.
Der Unter-Schied ist weder Distinktion noch Relation. Der Unter-Schied ist im höchsten Fall Dimension für Welt und Ding. Aber in diesem Fall meint «Dimension» auch nicht mehr einen für sich vorhandenen Bezirk, worin sich dies und jenes ‘ansiedelt. Der Unter-Schied ist die Dimension, insofern er Welt und Ding in ihr Eigenes er-mißt. Sein Er-messen eröffnet erst das Aus- und Zu-einander von Welt und Ding. Solches Eröffnen ist die Art, nach der hier der Unter-Schied beide durchmißt. Der Unter-Schied vermißt als die Mitte für Welt und Dinge das Maß ihres Wesens. Im Heißen, das Ding und Welt ruft, ist das eigentlich Geheißene: der Unter-Schied.
Die erste Strophe des Gedichtes heißt die Dinge kommen, die als dingende Welt gebärden. Die zweite Strophe heißt die Welt kommen, die als weltende Dinge gönnt. Die dritte Strophe heißt die Mitte für Welt und Ding kommen: den Austrag der Innigkeit. Die dritte Strophe beginnt deshalb mit einem betonten Rufen:
Wanderer tritt still herein;
Wohin? Der Vers sagt es nicht. Dagegen ruft er den eintretenden Wanderer in die Stille. Sie verwaltet das Tor. Jäh und befremdlich ist es gerufen:
Schmerz versteinerte die Schwelle.
Einsam spricht dieser Vers im Gesprochenen des ganzen Gedichtes. Er nennt den Schmerz. Welchen? Der Vers sagt nur:
«Schmerz … »Woher und inwiefern ist Schmerz gerufen?
Schmerz versteinerte die Schwelle.
« … versteinerte … » Dies Wort ist das einzige im Gedicht, das in der Zeitform der Vergangenheit spricht. Gleichwohl nennt es nicht ein Vergangenes, solches, was nicht mehr anwest. Es nennt Wesendes, das schon gewesen. Im Gewese des Versteinerns west allererst die Schwelle.
Die Schwelle ist der Grundbalken, der das Tor im ganzen trägt. Er hält die Mitte, in der die Zwei, das Draußen und das Drinnen, einander durchgehen, aus. Die Schwelle trägt das Zwischen. In seine Verläßlichkeit fügt sich, was im Zwischen aus- und ein-geht. Das Verläßliche der Mitte darf nirgend hin nachgeben. Der Austrag des Zwischen braucht das Ausdauernde und in solchem Sinne Harte. Die Schwelle ist als der Austrag des Zwischen hart, weil Schmerz sie versteinerte. Aber der zu Stein ereignete Schmerz hat sich nicht in die Schwelle verhärtet, um in ihr zu erstarren. Der Schmerzwest in der Schwelle ausdauernd als Schmerz.
Doch was ist Schmerz? Der Schmerz reißt. Er ist der Riß. Allein er zerreißt nicht in auseinanderfahrende Splitter. Der Schmerz reißt zwar auseinander, er scheidet, jedoch so, daß er zugleich alles auf sich zieht, in sich versammelt. Sein Reißen ist als das versammelnde Scheiden zugleich jenes Ziehen, das wie der Vorriß und Aufriß das im Schied Auseinandergehaltene zeichnet und fügt. Der Schmerz ist das Fügende im scheidend-sammelnden Reißen. Der Schmerz ist die Fuge des Risses. Sie ist die Schwelle. Sie trägt das Zwischen aus, die Mitte der zwei in sie Geschiedenen. Der Schmerz fügt den Riß des Unter-Schiedes. Der Schmerz ist der Unter-Schied selber.
Schmerz versteinerte die Schwelle.
Der Vers ruft den Unter-Schied, aber er denkt ihn weder eigens, noch nennt er sein Wesen bei diesem Namen. Der Vers ruft den Schied des Zwischen, die versammelnde Mitte, in deren Innigkeit die Gebärde der Dinge und die Gunst der Welt einander durchmessen.
So wäre denn die Innigkeit des Unter-Schiedes für Welt und Ding der Schmerz? Allerdings. Nur dürfen wir den Schmerz nicht anthropologisch als Empfindung vorstellen, die wehleidig macht. Nur dürfen wir die Innigkeit nicht psychologisch als jenes vorstellen, worin sich die Empfindsamkeit einnistet.
Schmerz versteinerte die Schwelle.
Der Schmerz hat die Schwelle schon in ihr Tragen gefügt. Der Unter-Schied west schon als das Gewese, woher sich der Austrag von Welt und Ding ereignet. Inwiefern?
Da erglänzt in reiner Helle
Auf dem Tische Brot und Wein.
Wo erglänzt die reine Helle? Auf der Schwelle, im Austrag des Schmerzes. Der Riß des Unter-Schiedes läßt die reine Helle glänzen. Sein lichtendes Fügen ent-scheidet die Auf-Heiterung von Welt in ihr Eigenes. Der Riß des Unter-Schiedes enteignet Welt in ihr Welten, das die Dinge gönnt. Durch die Auf-Heiterung von Welt in ihren goldenen Glanz kommen zugleich Brot und Wein zu ihrem Erglänzen. Die großgenannten Dinge leuchten in der Einfalt ihres Dingens. Brot und Wein sind die Früchte des .Himmels und der Erde, von den Göttlichen den Sterblichen geschenkt. Brot und Wein versammeln bei sich diese Vier aus dem Einfachen der Vierung. Die geheißenen Dinge, Brot und Wein, sind die einfachen, weil ihr Gebärden von Welt aus der Gunst der Welt unmittelbar erfüllt wird. Solche Dinge haben ihr Genüge darin, das Geviert der Welt bei sich weilen zu lassen. Die reine Helle der Welt und das einfache Erglänzen der Dinge durchmessen ihr Zwischen, den Unter-Schied.
Die dritte Strophe ruft Welt und Dinge in die Mitte ihrer Innigkeit.
Die Fuge ihres Zu-einander ist der Schmerz. Die dritte Strophe versammelt erst das Heißen der Dinge und das Heißen von Welt. Denn die dritte Strophe ruft ursprünglich aus der Einfalt des innigen Reißens, das den Unter-Schied ruft, indem sie ihn ungesprochen läßt. Das ursprüngliche Rufen, das die Innigkeit von Welt und Ding kommen heißt, ist das eigentliche Heißen. Dieses Heißen ist das Wesen des Sprechens. Im Gesprochenen des Gedichtes west das Sprechen. Es ist das Sprechen der Sprache. Die Sprache spricht. Sie spricht, indem sie das Geheißene, Ding-Welt und Welt-Ding, in .das Zwischen des Unter-Schiedes kommen heißt. Was so geheißen wird, ist zur Ankunft aus dem Unter-Schied in diesen befohlen. Hier denken wir den alten Sinn von Befehlen, den wir noch kennen aus dem Wort: «Befiehl dem Herrn deine Wege». Das Heißen der Sprache befiehlt ihr Geheißenes in solcher Weise dem Geheiß des Unter-Schiedes an. Der Unter-Schied läßt das Dingen des Dinges im Welten der Welt beruhen. Der Unter-Schied enteignet das Ding in die Ruhe des Gevierts. Solches Enteignen raubt dem Ding nichts. Es enthebt das Ding erst in sein Eigenes: daß es Welt verweilt. In die Ruhe bergen ist das Stillen. Der Unter-Schied stillt das Ding als Ding in die Welt.
Solches Stillen ereignet sich jedoch nur in der Weise, daß zugleich das Geviert der Welt die Gebärde des Dinges erfüllt, insofern das Stillen dem Ding Genüge gönnt, Welt zu verweilen. Der Unter-Schied stillt zwiefach. Er stillt, indem er die Dinge in der Gunst von Welt beruhen läßt. Er stillt, indem er die Welt im Ding sich begnügen läßt. In dem zwiefachen Stillen des Unter-Schiedes ereignet sich: die Stille.
Was ist Stille? Sie ist keineswegs nur das Lautlose. Darin verharrt lediglich das Reglose des Tönens und des Lautens. Aber das Reglose ist weder nur auf das Verlauten beschränkt als dessen Aufhebung, noch ist das Reglose selber schon das eigentlich Ruhende. Das Reglose bleibt stets gleichsam nur die Rückseite des Ruhenden. Das Reglose beruht selbst noch auf der Ruhe. Die Ruhe aber hat ihr Wesen darin, daß sie stillt. Als das Stillen der Stille ist die Ruhe, streng gedacht, stets bewegter denn alle Bewegung und immer regsamer als jede Regung.
Zwiefach zumal stillt der Unter-Schied: die Dinge ins Dingen und die Welt ins Welten. So gestillt entweichen Ding und Welt dem Unter-Schied nie. Vielmehr retten sie ihn in das Stillen, als welches er selbst die Stille ist.
Dinge und Welt in ihr Eigenes stillend, ruft der Unter-Schied Welt und Ding in die Mitte ihrer Innigkeit. Der Unter-Schied ist das Heißende. Der Unter-Schied versammelt aus sich die Zwei, indem er sie in den Riß ruft, der er selber ist. Das versammelnde Rufen ist das Läuten. Darin geschieht anderes als das bloße Verursachen und die bloße Verbreitung eines Schalls.
Wenn der Unter-Schied Welt und Dinge in die Einfalt des Schmerzes der Innigkeit versammelt, heißt er die Zwei in ihr Wesen kommen. Der Unter-Schied ist das Geheiß, aus dem jedes Heißen selber erst gerufen wird, daß jedes dem Geheiß gehöre.
Das Geheiß des Unter-Schiedes hat immer schon alles Heißen in sich versammelt. Das bei sich versammelte Rufen, das im Rufen zu sich sammelt, ist das Läuten als das Geläut.
Das Rufen des Unter-Schiedes ist das zwiefache Stillen. Das gesammelte Heißen, das Geheiß, als welches der Unterschied Welt und Dinge ruft, ist das Geläut der Stille. Die Sprache spricht, indem das Geheiß des Unter-Schiedes Welt und Dinge in die Einfalt ihrer Innigkeit ruft.
Die Sprache spricht als das Geläut der Stille. Die Stille stillt, indem sie Welt und Dinge in ihr Wesen austrägt. Das Austragen von Welt und Ding in der Weise des Stillens ist das Ereignis des Unter-Schiedes. Die Sprache, das Geläut der Stille, ist, indem sich der Unter-Schied ereignet. Die Sprache west als der sich ereignende Unter-Schied für Welt und Dinge.
Das Geläut der Stille ist nichts Menschliches. Wohl dagegen ist das Menschliche in seinem Wesen sprachlich. Das jetzt genannte Wort «sprachlich» sagt hier: aus dem Sprechen der Sprache ereignet. Das so Ereignete, das Menschenwesen, ist durch die Sprache in sein Eigenes gebracht, daß es dem Wesen der Sprache, dem Geläut der Stille, übereignet bleibt. Solches Ereignen ereignet sich, insofern das Wesen der Sprache, das Geläut der Stille, das Sprechen der Sterblichen braucht, um als Geläut der Stille für das Hören der Sterblichen zu verlauten. Nur insofern die Menschen in das Geläut der Stille gehören, vermögen die Sterblichen auf ihre Weise das verlautende Sprechen.
Das sterbliche Sprechen ist nennendes Rufen, Kommen-Heißen von Ding und Welt aus der Einfalt des Unter-Schiedes. Das rein Geheißene des sterblichen Sprechens ist das Gesprochene des Gedichtes. Eigentliche Dichtung ist niemals nur eine höhere
Weise (Melos) der Alltagssprache. Vielmehr ist umgekehrt das alltägliche Reden ein vergessenes und darum vernutztes Gedicht, aus dem kaum noch ein Rufen erklingt.
Der Gegensatz zum rein Gesprochenen, zum Gedicht, ist nicht die Prosa. Reine Prosa ist nie «prosaisch». Sie ist so dichterisch und darum so selten wie die Poesie.
Heftet man die Aufmerksamkeit ausschließlich an das menschliche Sprechen, nimmt man dieses lediglich als die Verlautbarung des Inneren im Menschen, hält man das so vorgestellte Sprechen ltir die Sprache selbst, dann kann das Wesen der Sprache immer nur als Ausdruck und Tätigkeit des Menschen erscheinen.
Das menschliche Sprechen ruht aber als Sprechen der Sterblichen nicht in sich. Das Sprechen der Sterblichen beruht im Verhältnis zum Sprechen der Sprache.
Zu seiner Zeit wird es unumgänglich, dem nachzudenken, wie sich im Sprechen der Sprache als dem Geläut der Stille des Unter-Schiedes das sterbliche Sprechen und seine Verlautbarung ereignet. Im Verlauten, sei dies Rede oder Schrift, ist die Stille gebrochen. Woran bricht sich das Geläut der Stille? Wie gelangt die Stille als die gebrochene in das Lauten des Wortes? Wie prägt das gebrochene Stillen die sterbliche Rede, die in Versen und Sätzen erklingt?
Gesetzt, dem Denken glücke eines Tages, auf diese Fragen zu antworten, so muß es sich dennoch hüten, die Verlautbarung und gar den Ausdruck für das maßgebende Element des menschlichen Sprechens zu halten.
Das Gefüge des menschlichen Sprechens kann nur die Weise (das Melos) sein, in die das Sprechen der Sprache, das Geläut der Stille des Unter-Schiedes, die Sterblichen durch das Geheiß des Unter-Schiedes vereignet.
Die Weise, nach der die Sterblichen, aus dem Unter-Schied in diesen gerufen, ihrerseits sprechen, ist: das Entsprechen. Das sterbliche Sprechen muß allem zuvor auf das Geheiß gehört haben, als welches die Stille des Unter-Schiedes Welt und Dinge in den Riß seiner Einfalt ruft. Jedes Wort des sterblichen Sprechens spricht aus solchem Gehör und als dieses.
Die Sterblichen sprechen, insofern sie hören. Sie achten auf den heißenden Ruf der Stille des Unter-Schiedes, auch wenn sie ihn nicht kennen. Das Hören entnimmt dem Geheiß des UnterSchiedes, was es ins lautende Wort bringt. Das hörend-entnehmende Sprechen ist Ent-sprechen.
Indem jedoch das sterbliche Sprechen sein Gesprochenes dem Geheiß des Unter-Schiedes entnimmt, ist es auf seine Weise schon dem Ruf gefolgt. Das Entsprechen ist als hörendes Entnehmen zugleich anerkennendes Entgegnen. Die Sterblichen sprechen, insofern sie auf eine zwiefäItige Weise, entnehmend-entgegnend, der Sprache entsprechen. Das sterbliche Wort spricht, insofern es in einem mehrfaltigen Sinne ent-spricht.
Jedes echte Hören hält mit dem eigenen Sagen an sich. Denn das Hören hält sich in das Gehören zurück, durch das es dem Geläut der Stille vereignet bleibt. Alles Entsprechen ist auf das an sich haltende Zurückhalten gestimmt. Darum muß solchem Zurückhalten daran liegen, hörend für das Geheiß des Unter-Schiedes sich bereit zu halten. Das Zurückhalten aber muß darauf achten, dem Geläut der Stille nicht nur erst nach-, sondern ihm sogar vor-zu-hören und darin seinem Geheiß gleichsam zuvorzukommen.
Das Zuvorkommen in der Zurückhaltung bestimmt die Weise, nach der die Sterblichen dem Unter-Schied entsprechen. Auf diese Weise wohnen die Sterblichen im Sprechen der Sprache.
Die Sprache spricht. Ihr Sprechen heißt den Unter-Schied kommen, der Welt und Dinge in die Einfalt ihrer Innigkeit enteignet.
Die Sprache spricht.
Der Mensch spricht, insofern er der Sprache entspricht. Das Entsprechen ist Hören. Es hört, insofern es dem. Geheiß der Stille gehört.
Nichts liegt daran, eine neue Ansicht über die Sprache vorzutragen. Alles beruht darin, das Wohnen im Sprechen der Sprache zu lernen. Dazu bedarf es der ständigen Prüfung, ob und inwieweit wir das Eigentliche des Entsprechens vermögen: das Zuvorkommen in der Zurückhaltung. Denn:
Der Mensch spricht nur, indem er der Sprache entspricht.
Die Sprache spricht.
Ihr Sprechen spricht für uns im Gesprochenen:
Ein Winterabend
Wenn der Schnee ans Fenster fällt,
Lang die Abendglocke läutet,
Vielen ist der Tisch bereitet
Und das Haus ist wohlbestellt.
Mancher auf der Wanderschaft
Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden.
Golden blüht der Baum der Gnaden
Aus der Erde kühlem Saft.
Wanderer tritt still herein;
Schmerz versteinerte die Schwelle.
Da erglänzt in reiner Helle
Auf dem Tische Brot und Wein.
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