Befreiende Freiheit – als Merkmal christlicher Existenz
E. Jüngel, Anfänger. Herkunst und Zukunft Christlicher Existenz. Zwei Texte, Stuttgart 2003 (Radius)
Freiheit – ein großes Wort! Und doch schrecklich missbrauchbar und immer wieder schrecklich missbraucht! Für die Freiheit haben Menschen ihr Leben gelassen, nicht unbedingt gern, aber tapfer. Doch im Namen der Freiheit mussten auch Menschen ihr Leben lassen, die ein unsicheres Leben in Unfreiheit –dem sicheren Tod allemal vorgezogen hätten. Um der Freiheit willen sind Menschen auf die Barrikaden gestiegen. Und im Namen der Freiheit wurden ganze Völker geknechtet. Ja, es gibt – und das ist er wirrender noch – sogar wirkliche Befreiungen, die doch nur erneute Unfreiheit erzeugen. Als die »ruhmreiche Rote Armee« 1945 Berlin eroberte und der braunen Diktatur ein Ende machte, hatten die Deutschen Grund, die sowjetischen Befreier dankbar zu begrüßen. Indessen, im Gefolge der Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur zog eine neue Diktatur ein, die nur von wenigen begrüßt, von vielen hingegen zähneknirschend erlitten, wenn nicht laut oder leise verflucht wurde. Befreiung ohne nachfolgende Freiheit? Doch warum in die Ferne längst vergangener Zeiten schweifen! Als die USA und Großbritannien in den Irak einmarschierten, haben auch sie einer grausamen Diktatur ein Ende gemacht. Das war gut. Doch ob die Freiheit, unsere westliche, im Zeichen von Säkularisation und Pluralismus stehende Freiheit, die im Gefolge dieser Befreiung nun wohl bei den Muslimen Einzug halten wird, von diesen ihrerseits als ein herrliches Geschenk oder nicht eher als ein Danaergeschenk angesehen und erfahren wird – das darf zumindest gefragt werden.
Freiheit – ein großes, aber überaus ambivalentes Wort! Vergleichbar dem Wort Gott, über das Martin Buber ernüchtert notierte: »Welches Wort der Menschensprache ist so missbraucht, so befleckt, so geschändet worden wie dieses! All das schuldlose Blut, das um es vergossen wurde, hat ihm seinen Glanz geraubt. All die Ungerechtigkeit, die zu decken es herhalten musste, hat ihm sein Gepräge verwischt. «
Also auf das Wort Freiheit verzichten? Und dann auch gleich noch auf das Wort Gott? Martin Buber hat diese Konsequenz nicht gezogen. Er hat sie vielmehr für einen gefährlichen Kurzschluss gehalten. Seine Überlegungen zum Wort Gott laufen auf das genaue Gegenteil hinaus. Buber notierte weiter: “Ja,… es ist das beladenste aller Menschenworte. Keines ist so besudelt, so zerfetzt worden. [Doch:] Gerade deshalb darf ich darauf nicht verzichten. « (M. Buber, Gottesfinsternis, in: ders., Werke, Bd. 1: Schriften zur Philosophie, 1962,503-603,508f.)
Dasselbe gilt auch für das Wort Freiheit. Seinem Missbrauch und seiner Missbrauchbarkeit kann man nur durch rechten Gebrauch dieses Wortes entgegenwirken. Und nicht nur durch den rechten Gebrauch des Wortes, sondern vor allem durch den rechten Gebrauch der Freiheit selbst. Denn die Freiheit ist da – allem Missbrauch derselben zum Trotz. Ja, man kann sie überhaupt nur missbrauchen, weil sie schon da ist. Vielleicht noch in einiger Ferne. Aber selbst dann ist sie da. Und macht sich bemerkbar, signalisiert,
dass sie naher kommt – so wie in Beethovens Fidelio ein fernes, aber unüberhörbares Trompetensignal den Gefangenen zu verstehen gibt: Es gibt einen souveränen Indikativ der Freiheit. Und dieser Indikativ der Freiheit wird sich durchsetzen. Die Freiheit wird siegen – allen ihren Niederlagen zum Trotz.
Eine kühne Behauptung? Eine allzu kühne Behauptung? In der Tat: eine weltliche Gewissheit gibt es dafür nicht. Die Behauptung, dass die Freiheit schon da ist und dass sie siegen wird, entspringt vielmehr der Gewissheit des christlichen Glaubens: des Glaubens, dass Gott selbst für die Freiheit einsteht. Denn der christliche Glaube lebt davon, dass Jesus Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch, für unsere Freiheit gestorben und um unserer Freiheit willen auferweckt worden ist von den Toten. Es ist österliche Gewissheit, dass Gott selber nicht nur der Inbegriff aller Freiheit ist sondern dass er seine unendliche Freiheit dazu gebraucht, uns Menschen aus unserer selbstverschuldeten Unfreiheit zu befreien. In der Person Jesu Christi – in ihr ist die Freiheit da. Der von den Toten auferstandene Christus – er ist frei und macht frei, er ist die befreiende Freiheit in Person.
Und weil der christliche Glaube von dieser Gewissheit lebt, deshalb ist unter allen Religionen das Christentum, wie Hegel pointiert formuliert hat, die Religion der Freiheit. Schon Melanchthon hatte es lapidar erklärt: »Freiheit – das ist das Christentum«. ( Vgl. Ph. Melanchthon, Loci communes. 1521, Werke in Auswahl, Bd. II/1, 1978, 148.)
Über die österliche Gewissheit, dass die Freiheit siegen wird, möchte ich nachdenken. Und ich möchte das so tun, dass deutlich wird, was das überhaupt ist: Freiheit. Und warum Gott und Gott dein der im ursprünglichen Sinne Freie genannt zu werden verdient. Aber auch was es mit unserer eigenen Freiheit und mit unserer selbstverschuldeten Unfreiheit auf sich hat, muss zur Sprache kommen, wenn wir begreifen wollen, dass wir von Gottes befreiender Freiheit abhängig sind. Jawohl, abhängig! Denn auch das gilt es herauszuarbeiten, dass wahre Freiheit keineswegs der Feind einer authentischen Abhängigkeit ist. Wer in der Hand eines anderen Menschen ist, der muss, um frei zu werden, sich emanzipieren. Denn das besagt das Wort emanzipieren: sich von der beherrschenden Hand eines Anderen befreien. Doch wer in der Hand Gottes ist, der ist bereits in einer jeder Emanzipation zuvorkommenden Weise ein freier Mensch.
Wir fragen zuerst danach, was das eigentlich ist: Freiheit. Wir erörtern sodann, warum und inwiefern der Mensch seine Freiheit verwirken kann. Und wir bedenken abschließend, wie Gott dem in selbstverschuldeter Unfreiheit existierenden Menschen aufs neue Freiheit zuspielen kann.
I. Freiheit – was ist das?
Freiheit! Wenn sie sich ereignet, dann wird eine Welt auf den Kopf gestellt.
Du bist frei. »Wem ich das glauben könnte, … würde ich vor Freude auf dem Kopf gehen; es würde mir eitel Zucker und Gold sein«.) So Luther (in einer am 19. Oktober 1533 gehaltenen Predigt) zu seinen Wittenbergern. (Vgl. M. Luther WA 37,176,5-8)
Lassen wir Zucker und Gold lieber beiseite! Nichts gegen Gold und Geld! “Gold und Silber lieb ich sehr, kann’s auch gut gebrauchen …”(Hans Eichel, unser aller Finanzminister, könnte angesichts leerer Staatskassen wohl ein Lied davon singen. Geld zu haben, das wissen wir, beruhigt. Und Geld vernünftig auszugeben, ist eine gesellschaftspolitische Chance, die zu
nutzen unsere Politiker verpflichtetet sind. Gold, Geld – man kann viel Gutes damit anfangen.
Aber glücklich macht Geld nicht. Vom Zucker ganz zu schweigen. Wer zu viel davon im Blut hat, ist eher unglücklich. Luther wollte aber gerade das überwältigende Glück zum Ausdruck bringen, das dem widerfährt, dem das Ereignis befreiender Freiheit widerfährt. Und dafür ist das Bild vom auf dem Kopf stehenden oder gehenden Ich nun wirklich zutreffend. Der tiefsinnige,
aus dem Tübinger Stift hervorgegangene Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (nebenbei bemerkt: aus dem Tübinger Stift gehen noch immer tiefsinnige Köpfe hervor) hat sich ganz ähnlich ausgedrückt, als er die durch die Französische Revolution ausgelöste Freiheitserfahrung beschrieb: »So lange die Sonne am Firmament steht und die Planeten um sie herum kreisen, war das nicht gesehen worden, dass der Mensch sich auf den Kopf, das ist auf den Gedanken stellt, und die Wirklichkeit nach diesem erbaut. … Es war dieses somit ein herrlicher Sonnenaufgang”( G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S.W. Jubiläumsausgabe, Bd. 11, hg. von H. Glockner, 1961, 557)
In unseren Kindertagen haben wohl die meisten von uns aus lauter Übermut sich selber ab und zu auf den Kopf gestellt und dann die Welt durch die Beine hindurch angeschaut. Und siehe da, sie sah recht anders aus als zuvor. Die Farben leuchten intensiver. Und die Proportionen zwischen vorn und hinten, oben und unten, die Proportionen zwischen den Dingen, die Weltverhältnisse stellen sich anders dar als zuvor. Dem Kind macht das Spaß. Doch der Erwachsene will mehr als nur Spaß. Ein frei gewordener Mensch sieht die Welt nicht nur anders an als zuvor. Er will seine neue Welt-Sicht auch realisieren. Er will die alte Welt so umbauen und umgestalten, dass sie
seiner neuen Welt-Sicht immer ähnlicher wird. So nur macht er von seiner Freiheit rechten Gebrauch. Ja so erwirbt er sie immer wieder neu. Goethes Faust hat so Unrecht nicht:
»Das ist der Weisheit letzter Schluss:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
der täglich sie erobern muss. «
(J.W. von Goethe, Faust 11, 11574-1 1576, Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Abt. I, Bd. 15/1,1888, 315f.)
Ein freier Mensch ist so frei, etwas anzufangen mit sich und mit seiner Welt, um dann wie der alte Faust “auf freiem Grund mit freiem Volke” (J.W. von Goethe, Faust 11,11580, aaO., 316.) zu stehen. Ein freier Mensch ist so frei, etwas anzufangen – in diesem schlichten Satz steckt eine solenne Definition dessen, was in Wahrheit Freiheit genannt zu werden verdient. Immanuel Kant hat es auf den Begriff gebracht. Freiheit, so der Königsberger, ist »das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen«.( I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 561, Werke in sechs Bänden, hg. Von W. Weischedel, Bd. 2, 1966, 488.)
Doch wer kann das wirklich: einen Zustand von selbst anfangen? Ganz von selbst? Ohne fremde Hilfe? Wer kann in ursprünglicher Weise anfangen, ohne an irgendetwas anzuknüpfen? Wer also ist wirklich uneingeschränkt frei?
Der christliche Glaube ist so nüchtern, dass er weiß: in ursprünglicher Weise anfangen, ohne fremde Hilfe und ohne an etwas Vorgegebenes anzuknüpfen, also mit nichts etwas anfangen – das kann nur Gott allein. Uneingeschränkt frei – das ist Gott allein. Denn er und nur er kann aus nichts, ex nihilo, etwas machen.
Doch Gott kann das nicht nur. Er kam nicht nur mit nichts etwas anfangen. Er tut es auch. Vielmehr: er hat es getan. Wenn wir unseren Glauben an Gott den Schöpfer bekennen, dann bringen wir damit genau dies zum Ausdruck: dass Gott mit nichts angefangen, dass er in ursprünglicher Weise angefangen hat und dass eben dies seine Freiheit ist, die mir und meinen Mitgeschöpfen gilt. Mit Luther: »Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen”. Gottes Freiheit ist eminent schöpferisch. Und was wir, wenn
wir es von einem Menschen sagen, eher nachsichtig meinen, das muss man von Gott voller Staunen und Bewunderung sagen: er, Gott, ist ein, er ist der ursprüngliche Anfänger. Er ist der Anfänger schlechthin. Und wir? Wie steht es mit unserer menschlichen Freiheit?
Nicht zum Besten – wenn man dem Urteil der heiligen Schrift trauen darf. Zwar ist der zum Ebenbild Gottes geschaffene Mensch seinerseits dazu bestimmt, im guten Sinne des Wortes ein Anfänger zu sein und immer wieder zu werden. Zwar will der freie Gott freie Menschen, damit er ihnen und sie ihm in Freiheit, also ganz und gar ungezwungen begegnen können.
Denn dazu hat er uns ja geschaffen: dass wir mit ihm zusammenkommen, und zwar gern zusammenkommen. Und deshalb ist – wie Augustinus (A. Augustinus, Confessiones, l. 1, lat.-dt., eingeleitet, übersetzt und erläutert von J. Benthart, 1960, 12f.: “inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te: ruhelos ist unser Herz, bis dass es Ruhe har in Dir”) pointiert formuliert hat – unser Herz auf Erden solange unruhig, bis wir mit Gott ungehindert und vorbehaltlos zusammengekommen sind und bei ihm Ruhe finden: schöpferische Ruhe, aus der dann freilich wieder neue Anfange hervorgehen.
Eia, wär’n wir da! Doch die Verhältnisse, die sind nicht so. Und sie sind deshalb nicht so, weil wir Menschen, weil wir sündigen Menschen verhaltnislos existieren. Verhältnislos im doppelten Sinne des Wortes, nämlich maßlos, und gar so maßlos, dass die Verhältnisse, in denen wir leben und ohne die unser Leben zerfallen würde, Schaden nehmen: so sehr Schaden nehmen, dass an die Stelle des Beziehungsreichtums unseres Lebens tödliche Beziehungslosigkeit zu treten droht. Doch das muss genauer entfaltet werden.
II. Verwirkte Freiheit
Die ersten Kapitel der Bibel reden von dieser Beziehungs- und Verhältnislosigkeit, mit der jener Adam, in dem wir uns alle wiedererkennen müssen, Gottes gute Schöpfung bedroht. Auch dieser unser Prototyp, auch Adam konnte und sollte als Gottes Ebenbild etwas anfangen auf Erden. Das Bild vom paradiesischen Garten steht dafür gut. Denn der Garten Eden war
keineswegs eine Art Schlaraffenland, in dem man die Hände in den Schoss legen und trotzdem satt und glücklich werden kann. Ganz und gar nicht! Ein Garten will bearbeitet und kultiviert werden. Sonst verwildert er und hat alsbald weder Gestalt noch Schöne. Statt Petersilie gedeiht dann das Unkraut, die Weinstöcke verdorren, Blumen und Früchte werden überwuchert. Und so fort an. Kurzum: mit einem Garten muss man etwas anfangen.
Aber, und das ist entscheidend, der Garten ist schon da. Den muss der Mensch nicht erst schaffen. Das Paradies auf Erden – das muss der Mensch nicht erst hervorbringen. Und das kann er auch nicht hervorbringen. Denn er kann nicht mit nichts anfangen. Wir Menschen fangen immer schon mit etwas an: mit etwas, das schon da ist; mit etwas, das uns Gott bereits gegeben hat. Wir sind, bevor wir gefordert werden, immer schon als Beschenkte da: als mit uns selbst Beschenkte und als mit einer Welt Beschenkte. Das unterscheidet unsere, das unterscheidet die menschliche Freiheit von der Freiheit des göttlichen Schöpfers, der an nichts anknüpft, wenn er anfängt: an nichts als an sich selbst.
Adam aber – und wer will, darf getrost Eva hinzufügen -, der alte Adam und die alte Eva, die wir alle sind, sie geben sich nicht damit zufrieden, mit etwas anzufangen. Der hochgemute Mensch will ebenfalls mit nichts anfangen. Er will sein wie Gott. Doch mit nichts anfangen kann der Mensch nur, wenn er das Nichts des Uranfangs, wenn er das Tohuwabohu wieder über die Schöpfung heraufbeschwört: das Tohuwabohu, das Gott doch, als er Himmel und Erde schuf, gerade ausgeschlossen hat. Die Maßlosigkeit des Menschen, sich nicht damit zufriedenzugeben, geschaffen zu sein, die Maßlosigkeit, alles selbst machen zu wollen und am liebsten auch noch sich selber machen
– und wenn das nicht geht, wenigstens einen Klon von sich selber machen – zu wollen, diese Maßlosigkeit droht die Schöpfung an den Rand des Nichts zu bringen. Wenn der Mensch selber Schöpfer sein will. wenn er am Ende sogar sein eigener Schöpfer sein will, dann verwirkt er die Freiheit, die er als Gottes Ebenbild hat. Wer selber Gott sein will, der kann nicht gut auch noch Gottes Ebenbild sein. Er verwirkt seine Gottebenbildlichkeit und damit zugleich seine kreatürliche Freiheit.
Das gilt nicht nur für unsere individuelle Existenz. Das gilt auch für den Menschen als Gattungswesen. Wir erleben heute, dass der Wille zur Macht, der nun einmal zum Menschen gehört und der als solcher keineswegs verwerflich ist, sich dahin versteigt, sich zur Allmacht des Schöpfers potenzieren zu wollen. Unsere heutigen wissenschaftlichen Kenntnisse und technologischen Fähigkeiten lassen die Realisierbarkeit dieses Willens zur Allmacht durchaus realistisch erscheinen. Ich stelle das fest, ohne in eine billige Schelte der derzeitigen Forschung einzustimmen. Auch in der Wissenschaft gibt es verantwortliche Menschen. Sie bedürfen keiner kirchlichen Gängelung. Aber das entbindet uns nicht von der jedenfalls für einen Christenmenschen unerlässlichen kritischen Frage, wo die Grenze zwischen willkommenem wissenschaftlichen Fortschritt und dem maßlosen Willen, selber Schöpfer sein zu wollen, verlauft. Denn es tut dem Menschen
nicht gut, es ruiniert ihn vielmehr, wenn er den imitieren will, der alles aus nichts geschaffen hat. Was dabei herauskommt, sind ohnehin nur erbärmliche Karikaturen des wahren Schöpfers und seiner schöpferischen
Freiheit.
Die biblische Urgeschichte illustriert das dadurch, dass sie erzählt, wie der maßlose Wille, wie Gott sein zu wollen, das Leben um seinen wahren Reichtum betrügt. Ist doch der wahre Reichtum des menschlichen Lebens nichts anderes als sein Beziehungsreichtum. Ich meine nicht, was man gern »Vitamin B« nennt: Beziehungen zu denen, die Einfluss haben; Beziehungen,
die ich zu meinem eigenen vorteil nutzen oder gar schamlos ausnutzen kann. Doch selbst wenn man die Pflege solcher Beziehungen und ihre ungenierte Nutzung für etwas anrüchig hält, so kann man sich immerhin an denen, die keine solche Beziehungen haben und deshalb im Leben eher schlecht wegkommen, klarmachen, wie sehr das menschliche Leben auf Beziehungen hin angelegt ist. Der Mensch ist in einem fundamentalen, in einem fundamentalanthropologischen Sinn ein Beziehungswesen, ein Verhältniswesen. Er ist – und darin ist er Gottes gutes Ebenbild – ein beziehungsreiches Wesen.
Nur indem er sich zu sich selbst verhält, ist er ein lebendiger Mensch. Und indem er sich zu sich selbst verhält, bezieht er sich zugleich immer schon auf seine Mitmenschen und auf seine natürliche Umwelt – oder aber er wird verrückt. Denn wer in splendid isolation, seine soziale und natürliche Umwelt sozusagen ausschaltend, sich in monomaner Weise nur und ausschließlich auf sich selbst bezieht, der wird mit Sicherheit verrückt. Daraus resultiert: der Mensch verhalt sich, indem er sich auf sich selbst bezieht, immer schon zu Anderen.
Und wie steht es mit dem ganz Anderen? Wie steht es mit unserem verhältnis zu Gott?
Religiös sind wir alle, irgendwie: der eine sehr bewusst, der andere eher unbewusst. Man kann auch ohne Gott auf sehr eindrückliche Weise religiös sein. Der große Schleiermacher hat es mit einiger Bewunderung festgestellt und behauptet, »dass eine Religion ohne Gott« sogar »besser sein kann, als eine andre mit Gott” (F. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (Philosophische Bibliothek 255), 1958, 70 (= KGA Bd. I/2: Schriften aus der Berliner Zeit 1796-1799, 1984, 244).)
Wie auch immer: Der Mensch ist – sei es nun mit Gott, sei es ohne Gott – unausrottbar religiös, ganz egal, ob seine Religiosität sich institutionell, in Kirchlicher Verfasstheit, darstellt oder ob sie als vagierende oder gar vagabundierende Religiosität daherkommt. Und insofern gehört zum Beziehungsreichtum unseres Lebens immer auch die Beziehung zu
einem Ganz Anderen, den wir Christen Gott und den Vater Jesu Christi nennen und deshalb mit Unser Vater anreden dürfen.
Doch wenn der Mensch selber wie Gott sein will, dann stellt er diese Beziehung von Grund auf in Frage. Denn dann instrumentalisiert er sein Gottesverhältnis. Dann wird Gott zum Mittel meiner Zwecke. Und so darf ich weder mit einem Menschen noch mit Gott umgehen: dass er Mittel zum Zweck wird. Jeder Mensch ist um seiner selbst willen interessant und ein unbedingter Selbstzweck. Das ist Seine Würde. Und nicht weniger ist Gott um seiner selbst willen interessant und ein unbedingter Selbstzweck.
Das ist seine Ehre. Gott kann und soll man (wie der Kirchenvater Augustinus uns gelehrt hat) genießen, aber nicht gebrauchen – so wie man irgendetwas, wie man ein Ding gebraucht. Gott ist kein Gebrauchsgegenstand! Gott wie ein Ding, wie ein Instrument zu gebrauchen – das ist gotteslästerlich, so gotteslästerlich, dass dieser religiösen Gotteslästerung gegenüber ein fröhlicher Atheismus geradezu eine Wohltat ist.
Wird Gott wie ein Gebrauchsgegenstand genutzt, wird er, statt unbedingter Selbstzweck zu sein, instrumentalisiert, dann wird Gott schließlich auch ersetzbar, so wie jedwedes Ding ersetzbar ist. Dann wird die Gottesbeziehung so instrumentalisiert, dass sie meinem Selbstverhältnis unterworfen, dienstbar gemacht wird. Hölderlin – auch er aus dem Tübinger Stift hervorgegangen! – hat es so gesagt:
»Zu lang ist alles Göttliche dienstbar schon und alle Himmelskräfte verscherzt, verbraucht..danklos, ein schlaues Geschlecht«
(F. Hölderlin, Dichterberuf, Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd. 2, hg. Von E. Beissner, 1953, 48.)
Gott gebrauchen, Gott verbrauchen – das ist es, was die Bibel Sünde nennt. Und sie stellt mit unerbittlicher Harte fest, dass damit nicht nur die Gottesbeziehung, sondern der ganze Beziehungsreichtum des menschlichen Lebens zerstört wird. Denn wer sogar Gott instrumentalisiert, der ist bereit, alles und jedes, ja er ist bereit, sogar jedes menschliche Du zu instrumentalisieren. Er kennt am Ende nur noch einen einzigen Selbstzweck: nämlich sich selbst. Und er vergreift sich, indem er Gott und seine Mitmenschen instrumentalisiert, an Gottes Ehre und an seines Mitmenschen Wurde.
Doch damit lädiert der Sünder nicht nur seine Beziehung zu Gott und sein Verhältnis zu seiner sozialen und natürlichen Umwelt. Damit lädiert er auch Seine Beziehung zu sich selbst. Wer sich an Gottes Ehre und an der Wurde seines Mitmenschen vergreift, der beschädigt immer auch seine eigene Würde. Wenn wir das doch begreifen wurden im Staat, zwischen den Staaten, in der Gesellschaft, aber auch in der Kirche: mit der Würde der Anderen steht immer auch meine eigene Würde auf dem Spiel. Und mit der Menschenwürde steht über kurz oder lang das Menschenleben auf dem Spiel. Wird das menschliche Leben würdelos, dann beginnen die fundamentalen Lebensbeziehungen zu zerbrechen. Der Beziehungsreichtum des menschlichen Lebens zerfällt.
Wo aber der Beziehungsreichtum des Lebens zerfällt, da beginnt mitten im Leben die Herrschaft des Todes. Sie heraufzubeschwören, das ist des monomanen Menschenverrücktheit, die ihn aus dem Reich der Freiheit unter das Joch selbstverschuldeter Unfreiheit zwingt. Er ist nun der Knecht seines eigenen Willens zur Allmacht. Der von Gott frei geschaffene Mensch ist nun sein eigener Knecht.
Eine schlimmere Unfreiheit aber ist nicht denkbar als die, sich selber rücksichtslos ausgeliefert zu sein. Von allen Tyrannen ist unser eigenes Ich der mächtigste und listenreichste. Das siebente Kapitel des Römerbriefes öffnet uns die Augen für die harte Wahrheit, die sich in diesen drei Worten formulieren Lasst: Ich unterjoche mich.
Schon meine eigene Vergangenheit kann so sehr über mich herrschen, dass sie sogar die Zukunft fest im Griff hat. Herkunft will dann nicht nur Herkunft bleiben, sondern auch die Zukunft dominieren. Was ich längst hinter mir wähnte, holt mich wieder ein: Herkunft wird Zukunft. Und Zukunft ist dann nichts anderes als hochgerechnete oder fortgeschriebene Vergangenheit.
Jedes einigermaßen wache Gewissen kennt ja die Erfahrung, wie sehr eine verfehlte Vergangenheit die Gegenwart belasten kann: so sehr, dass man sich vor den Freuden der Gegenwart verschließt und stumpf wird gegenuber den Chancen und Ansprüchen der Zukunft. Ich werde dann verfolgt von den gespenstichen Schatten langst vergangener Taten: meinem schon gelebten Leben unentrinnbar Untertan.
Doch nicht nur eine verfehlte, auch eine erfolgreiche Vergangenheit kann einen Terror sondergleichen ausüben. Erfolge verpflichten. Und wehe dem, der hinter sie zurückfällt! Die Angst davor ist der Boden, auf dem die individuellen Lebenslügen gedeihen. Nicht nur in Politik und Wirtschafi, auch an den Universitäten, bei den Forschern und Lehrern, kann die erfolgreiche Vergangenheit einen Druck ausüben, der nicht selten entweder im Selbstbetrug endet: »ich kann’s noch immer und sogar noch besser als bisher!« Oder aber das Ganze endet in Resignation und Depression: »ich mag nicht mehr, ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr!« Und am schlimmsten ist es wohl, wenn solche Lebenslügen im intimsten Kreis, im Kreis von Familie und Freundschaft gedeihen. Dann zeigt die selbstverschuldete Unfreiheit ihre schrecklichste Fratze.
Und nun gibt es diese Gefangenschafi in einer erfolgreichen Vergangenheit nicht nur im individuellen Leben. Auch bedeutende Institutionen wie Z.B. die Gewerkschaften und erst recht unsere konfessionell getrennten Kirchen – und auf sie wollen wir uns jetzt beschränken – werden noch immer von ihrer eigenen großen Vergangenheit nicht nur positiv geprägt, sondern oft auch arg tyrannisiert: so sehr tyrannisiert, dass sie den Schritt nicht wagen, der an der Zeit ist, der im Blick auf die getrennte Christenheit nicht nur weltlich, sondern geistlich an der Zeit ist und auch von der gewissenhaftesten Theologie nicht gut bestritten werden kann. Man sollte übrigens nicht immer den armen Papst in Rom dafür verantwortlich machen. Der hat im Blick auf die christlichen Konfessionen, mehr noch aber im Blick auf die nichtchristlichen Religionen, insbesondere im Blick auf den Glauben Israels und im Blick auf den Glauben der Muslime, Türen aufgestoßen, die so mancher Kurienkardinal wohl lieber verriegelt gehalten katte. Mir macht dieser Papst Eindruck, geistlichen Eindruck. Doch Papst hin, Papst her: Wir sind, obwohl es in unserer konfessionellen Herkunft, ganz egal ob man von Wittenberg, von Genf, von Rom, von Konstantinopel, von Elstal oder von sonstwoher kommt, genug vorwärts weisende Kräfte gibt, noch immer auch Gefangene unserer Vergangenheit und werden noch immer mit den zukunftsverschliessenden Litaneien konfrontiert, die uns von den konfessionalistischen Gralshütern vorgemurmelt werden und die den Boden dafür bereiten, dass die kollektiven Lebenslugen auch inmitten der christlichen Kirche gedeihen. Nichts gegen die Treue zum Bekenntnis! Doch die wahre Treue zum Bekenntnis einer Kirche gedeiht nur da, wo man offen ist für dasjenige Bekennen, zu dem uns unsere eigene Zeit herausfordert. In der Alten Kirche gab es auf dem Marktplatz von Antiochien einen Papagei, der das kirchenrechtlich geltende Bekenntnis sogar mit besonderen dogmatischen Zusätzen zu singen vermochte. Eine Kirche, die sich nicht….. der jeweiligen Gegenwart zu selbstständigem, denn geistlichen Herausforderungen der eigenen Zeit gerecht werdendem Bekennen herausfordern lässt, nimmt auch die großen Bekenntnisse der Vergangenheit nicht wirklich ernst. Sie läuft Gefahr, Papageienbekenntnisse abzulegen. Sie bleibt gefangen in ihrer eigenen, unbestreitbar großen Vergangenheit. Gefangen! Und also unfrei!
Freiheit aber heißt: Von neuem anfangen. Doch wie? Wie kann ein in sich selbst gefangener, wie kann ein von seiner Vergangenheit tyrannisierter Mensch, wie kann eine von ihrer Vergangenheit gefesselte Kirche von neuem anfangen? Wie können wir aus unseren individuellen und kollektiven Lebenslugen befreit werden?
Nur so, dass wir uns auf denjenigen Anfang einlassen, den keiner von uns machen kann, weil er uns allein durch Gottes schöpferisches Handeln zukommen und durch Gottes schöpferisches Wort zugespielt werden kann.
III. Zugespielte Freiheit
Ja, zugespielt ist die richtige Metapher! Denn sie bringt einerseits zum Ausdruck, dass der von uns selbst nicht machbare Anfang bereits da, dass er als ein souveräner Indikativ da ist. Und sie bringt andererseits zum Ausdruck, dass dieser souveräne Indikativ bei uns ankommen, dass Gottes befreiende Freiheit uns so zugesprochen werden will, dass wir uns auf sie verlassen können. Der Morgenchoral sagt es in seiner hin reifenden Schönheit vielleicht am besten:
All Morgen ist ganz frisch und neu
des Herren Gnad und große Treu;
sie hat kein End den langen Tag,
drauf jeder sich verlassen mag.
Diese hin reifenden Verse kann man eigentlich nicht nur hören. Man muss sie singen, um auf diese Weise von ganzem Herzen in ihre Wahrheit einzustimmen. Versuchen wir es!
All Morgen ist ganz frisch und neu
des Herren Gnad und große Treu;
sie hat kein End den langen Tag,
drauf jeder sich verlassen mag.
O Gott, du schöner Morgenstern,
gib uns, was wir von dir begehren:
Zünde deine Lichter in uns an,
Lass uns an Gnad kein Mangel han.
Treib aus, o Licht, all Finsternis,
behüt uns, Herr, vor Ärgernis,
vor Blindheit und vor aller Schand
und reich uns Tag und Nacht dein Hand,
zu wandeln als am lichten Tag,
damit, was immer sich zutrag,
wir stehn im Glauben bis ans End
und bleiben von dir ungetrennt.
“Drauf jeder sich verlassen mag”! Sich verlassen – darum geht es! Wer sich darauf verlasst, dass Gottes Gnade und große Treue all Morgen frisch und neu ist, wer daran glaubt, der ist zwar in einem sehr präzisen Sinne verrückt. Aber er ist es zu seinem eigenen Besten. Denn er rückt dann in eben jenen Anfang ein, den Gott allein zu machen vermag. Und da erfährt er Gottes befreiende Freiheit. Und er erfährt sie so sehr, dass er mitten in unserem mehr oder weniger verbrauchten Leben selber wieder anfangen, von neuem
anfangen kann. Er lernt, neu zu sehen: in der Welt nimmt er wieder die ursprünglichen Farben der Schöpfung wahr. Er wird also ein entdeckender Mensch. Seine Augen sind nicht mehr nur ängstlich rückwärts gerichtet. Der freie Mensch hat vielmehr Augen zu sehen, was anderen verborgen ist.
Und was kann man da für Entdeckungen machen! Probieren Sie es einmal! Machen Sie einfach einmal Gebrauch von der Freiheit eines Christenmenschen, die Welt und nicht nur die Welt, sondern auch sich selbst ganz neu zu entdecken! Sie werden dann ganz gewiss entdecken, wo Sie gebraucht werden. Sie werden aber auch entdecken, wo Sie willkommen sind: wirklich willkommen, ohne irgendetwas dafür getan zu haben oder dafür tun zu müssen. Einfach willkommen, weil Sie um Ihrer selbst willen interessant sind.
Und Sie werden dann so etwas wie Freude am Sein entdecken. Entdeckungen über Entdeckungen! Wahre Freiheit befindet sich immer auf Entdeckungsreise. Und das muss die Welt merken, verehrte Christenmenschen! Die christliche Freiheit muss kenntlich werden in unserer Welt. Und das wird sie nicht durch Anpassung, nicht durch Gleichschaltung. Die Gesellschaft, in der wir leben, ist diffus genug. Ihr kann gar nichts besseres widerfahren, als auf eine kenntliche Christenheit, auf eine kenntliche Kirche zu stoßen. Die Christenmenschen müssen endlich wieder den Mut haben, Flagge zu zeigen: die Flagge der christlichen Freiheit! Nur dann wird unsere Gesellschaft bereit sein, sich auf die Freiheit eines Christenmenschen einzulassen und mit ihm auf Entdeckungsreise zu gehen.
Hören wir auf, uns zu verstecken. Geben wir klar und deutlich zu erkennen, dass wir echte Anfänger sind: von Gott zum Anfangen befähigte Anfänger.
Das Neue Testament bringt diese neu gewonnene, auf Entdeckungsreise gehende Freiheit gern dadurch zum Ausdruck, dass sie das in den schöpferischen Anfang Gottes einrückende Ich mit einem neugeborenen Kind vergleicht. Und in der Tat: Was ist in dieser Welt freier als ein neugeborenes Kind! Es muss, um da zu sein, an nichts anknüpfen als nur eben daran, dass es da ist. Es ist ein wirklicher Anfänger. Das gibt ihm seinen unvergleichlichen Zauber, der auch durch nächtliches Sauglingsgeschrei nicht zerstört werden kann. Nicht jedem, aber ganz Gewiss diesem »Anfang wohnt ein Zauber inne, der« es »beschützt und der« ihm »hilft, zu leben«.( H. Hesse, Stufen, in: ders., Die Gedichte 1892-1962, Bd. 2, 1977,676) Darauf ist der neugeborene Anfänger allerdings elementar angewiesen: dass er beschützt wird. Das zur Welt gekommene Menschenkind würde elend zugrunde gehen, wenn es nicht mit den elementaren Lebensmitteln versorgt, von Mutter und Vater umsorgt und von ihnen, bevor es selber zu reden vermag, liebevoll angesprochen würde. Ja, das auf unvergleichliche Weise freie Kind ist ganz und gar abhängig, abhängig von der elterlichen Liebe. Und gerade in diese Abhängigkeit ist es frei und entdeckt Tag für Tag mehr von seiner Freiheit. Und so ist denn die Abhängigkeit von der Liebe der Mutter und des Vaters ein wahrer Segen für das Kind.
Im Laufe des Erwachsenwerdens wird sich diese Abhängigkeit verändern und – hoffentlich! – in Dankbarkeit transformieren. Auch unsere Abhängigkeit von Gottes schöpferischer Liebe wird sich verändern. Sie kann viele Gestalten annehmen. Aber sie wird nie aufhören, es sei denn, wir würden erneut die Unfreiheit wählen.
Rucken wir hingegen immer wieder in Gottes schöpferischen Anfang ein, dann wird auch uns die herrliche Freiheit zugespielt, in dieser alten Welt etwas anzufangen. Und das zumindest in dreifacher Hinsicht:
(1.) Glaubend fangen wir mit Gott etwas an: nun aber nicht, um ihn abermals zu instrumentalisieren, sondern um mit ihm um seiner selbst willen, um mit Gott um Gottes willen zusammenzukommen und zusammenzuleben in der Lebensgemeinschaft der Heiligen. Denn dadurch und nur dadurch wird man ein Heiliger, so und nur so wird man eine Heilige:
dass man mit Gott zusammenkommt und mit ihm zusammenlebt. Da man aber Gott nicht sehen kann – noch nicht! -, kann man auch von unserer Heiligkeit nichts sehen – noch nicht! Aber dann! In Gottes kommendem Reich werden wir ihn sehen und so auch unserer eigenen Heiligkeit ansichtig werden. Noch aber sehen wir nichts davon. Und so nehmen wir uns in den Augen der Welt zweifellos als seltsame Heilige aus. Bekennen wir uns dazu: seltsame Heilige, aber Heilige! Denn glaubend freuen wir uns dessen, dass Gott da und dass er für uns da ist. Das macht ja seine Schönheit aus, dass er nicht nur da, sondern für uns da ist. Und das gibt seiner Schönheit Tiefe, dass er nicht nur lebt, sondern als der lebt, der für uns in den Tod gegangen ist und den Tod überwunden hat. Ja, Gottes Herrlichkeit hat Tiefe. Wohl dem, der sie zu genießen vermag. Er gewinnt dann Kreativität, gewinnt die schöpferische Kraft und Phantasie, auch mit der Welt etwas Gescheites anzufangen.
(2.) Liebend fangen wir mit der Welt und in ihr mit unseren Mitmenschen etwas an: wiederum nicht, um sie abermals zu instrumentalisieren, sondern um uns ihrer Wurde zu freuen und um ihnen zu vermitteln, dass auch ihrer ein Anfang harrt, dem ein ihr Leben schützender Zauber innewohnt. Wenn uns diese Vermittlung geling, dann werden auch wir ein Segen sein.
Und was fängt (3.) der christliche Anfänger mit sich selber an? Nun, das mag jeder selber ausloten. Er wird dann schon merken: wer mit Gott anfangt und Seine Mitmenschen neu wahrzunehmen lernt, der ist so »beschäftigt«, dass er sich selber das sei immer mehr vergisst. Wohltuende Selbstvergessenheit! Denn in solcher Selbstvergessenheit kommt das menschliche Ich in ganz neuer Weise zu sich selbst. So lebt nun – sagt Martin Luther – »ein Christenmensch . . . nicht in ihm selbst«. Er gerät vielmehr außer sich: »Durch den Glauben fahret er über sich in Gott, aus Gott fahret er wieder unter sich durch die Liebe und bleibt doch immer in Gott und göttlicher
Liebe.« Glaubend und liebend ist der Mensch außer sich. Und gerade darin unüberbietbar frei. (M. Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen. 1520, WA 7, 38, 6-10)